ERFAHRUNGEN EINES LANDARZTES – Teil 1

Über Gesundheit und Krankheiten des Odenwälders

Sehr geehrte, liebe Patienten,

nach mehrjähriger Erfahrung in eigener ärztlicher Praxis im Odenwald und mit den Odenwäldern ist es an der Zeit, die medizinschen Erfahrungen mit diesem urwüchsigen Volksstamme zu schildern. Mögen kommende Medizinergenerationen davon lernen.

Geschichtlicher Hintergrund: Mit dem Zerfall des römischen Reiches im dritten Jahrhundert wanderten die Alemannen ein. Man vermutet, daß die Fußkranken darunter in der Tiefebene zwischen Neckar und Rhein geblieben sind, weil sie sich den harten Marsch in die Berge nicht zumuteten. Noch heute bewegen sich deren Nachfahren zum Beispiel in den Städten Bürstadt und Lorsch vornehmlich behäbig und mit zweirädrigen Hilfsmitteln fort. Die wanderfreudigen Alemannen erklommen das Gebirge und haben bis heute ihre Bewegungsfreude bewahrt. In der Sprache zeugt der rege Gebrauch von Aufforderungen zur Bewegung von der Wanderlust des Odenwälders: ala (nun gehen wir), alsfort (immer auf dem Wege) oder owwenaus (stets zum Gipfel).

Geographisches: Der Odenwald gehört mit vielen Mittelgebirgen Deutschlands zum Variszischen Gebirge. das sich vor mehr als 300 Millionen Jahren im Devon durch große Teile Europas zog. Hieraus lässt sich die Bezeichnung Vari(s)zen für die massiv aufgeblähten Krampfadern des Odenwälders herleiten.

Körperbild: Der Odenwälder gehört zur kaukasichen Rasse, ist als solcher groß und gerade gewachsen. Hervorstechend ist die Schönheit der Odenwälderin, welche auch im traditionellen Liedgut beschrieben wird: Etwa in „Die schöne Odenwälderin“ oder in „Die Scholze-Gret’“ mit den schwarzen Haaren, dem gesunden Gebiss („Weisse Zei“). Die Kinder tragen das Haarkleid gewöhnlich in Locken („Krullehoar“).

Ernährung: Der Odenwälder ernährt sich ausgewogen und reichlich von den Früchten seines Feldes und den Tieren aus eigener Zucht. Die traditionelle Ernährung ist reich an enzymatisch weiterverarbeiteten Milchprodukten in verschiedenster Form (Wortendungen jeweils -käs) und frischen oder vergorenen Obstsäften. Die Ernährungsweise, besonders in Kombination mit der stetigen körperlichen Ertüchtigung, vermeidet die in der heutigen Lebensweise des Städter so häufigen Verdauungsanomalitäten. Zur Teilhabe am Gesundungseffekt der Ernährung des Odenwälders kommen besonders am Wochenende Heerscharen Leidender aus den Städten der Ebene in den Odenwald und bevölkern die Trink- und Nähr-stätten im Odenwald. Die Pilger aus der Ebene lassen meist schon ihr Leiden am Nummernschild ihrer Fahrzeuger erkennen: MA = Magenkrankheit, DA = Darmkrankheit, HD = Hüftdysplasie, GG = ganz grank oder garnet gesund.

Zur Ernährung des Odenwälders gehört häufig auch die Musik, welche zunächst Geschmacks-, aber auch Geruchssinn anregt, im späteren Verlauf – hiervon leitet sich die Namensgebung ab – auch das Gehör.

Krankheiten: Im Allgemeinen ist der Odenwälder sehr robust und übersteht sowohl klimatische Extremsituationen, als auch körperliche Höchstanstrengungen und Notzeiten. Kleinere Weh-weh-chen werden unter Fortführen der Alltagsbelastungen ausgesessen („Was alonz kumme is, muss a alonz gei“). Oder er bedient sich der vielfältigen Selbstbehandlung, z.B. mit den geschilderten gegorenen Obstsäften. Vorsorgeuntersuchungen („Dschegab“) nimmt der Odenwälder regelmäßig in Anspruch.

-Die Odenwälder im zeugungsfähigen Alter werden häufig von Zecken gequält, welche sie sich in der Brunftzeit (Frühsommer) bei Ausübung der Paarung in den Wäldern zuziehen. Die Zecke heißt deshalb auch Wald-Bock. Zur Verhütung schlimmerer Infektionserkrankungen der Hirnhaut begibt sich der Odenwälder jedoch regelmäßig zu seinem Hausarzt und lässt sich impfen.

-Durch die o.g. Ernährungsweise mit hauptsächlich heimischer Kost liegt ein endemischer Jodmangel vor, der die Entwicklung von Schilddrüsenkropf fördert. Die traditonelle Odenwälder Tracht der Frauen versucht die Kropferscheinung mit Halsborden und Schmuck zu verbergen. Der moderne Odenwälder achtet jedoch auf jodhaltige Ernährung (Jodsalz, Fisch) und begibt sich regelmäßig zur Untersuchung der Schilddrüse zu seinem Hausarzt. Die früher so gefürchtete Erkrankung des Kropfes ist somit schon lange auf dem Rückzug.

-Ein weiterer Nachteil der Ernährung des Odenwälders ist die Entwicklung von vorderen Bauchgeschwüren (eher bei Männern) oder massiven Gesäßpolstern (eher bei Frauen). Zur Beseitigung des Übels nehmen hartnäckige Fälle an den Ernährungskursen bei Dr. Kühn und Dr. Geißler teil (nächster Kurs nach Ostern).

-Vergorene Obstsäfte sind, wie geschildert, übliche und reichlich genossene Getränke im Odenwald. Immer wieder werden bei Zusammenkünften zu Ehren von verdienten Familienmitgliedern oder sonstigen Heiligen übermäßige Genusssituationen beobachtet, wobei die Gärungsprodukte zu Ausfall der Sprach- und Gleichgewichtsfunktionen führen. Neben diesen akuten Überdosierungen führt der Dauerkonsum geringer Mengen zu Erkankungen von Leber, Darm, Herz und Hirn. Fälschlicherweise nimmt der einfache Odenwälder an, dass durch Hinzugabe von Quellwasser zum Gärungssaft die Schadenswirkung aufgehoben wird. Hier ist Aufklärungsarbeit nötig.

Verhalten und Soziales: Der Odenwälder ist von Grund auf freundlich und gesellig. Sein Nest bewohnt er in aller Regel lebenslang mit dem in der Brunftzeit (siehe Wald-Bock) gebundenen Partner und der nachfolgenden Brut. Vorfahren, die sich nicht mehr selbst versorgen können, werden aufopfernd gepflegt. Von der Neigung zu Gruppenbildung außerhalb des Nestes zeugen zahlreiche Vereine.

-Der Odenwälder ist Fremdem gegenüber scheu und zurückhalten. Nach Bewährungsprobe, welche meist durch die Teilnahme an Gruppenveranstaltungen zur Verehrung von Familienangehörigen oder Heiligen, gemeinsames Einnehmen vergorener Obstsäfte und langes Durchhalten gemeistert wird, nimmt der Odenwälder aber auch den Fremden ebenbürtig an. So haben wir im Odenwald eine neue nette Heimat gefunden.

ERFAHRUNGEN EINES LANDARZTES – Teil 2

Die verschiedensten Typen

der Odenwälder Patienten:

Der Zettelpatient

Der Zettelpatient nimmt nach freundlich zugewandter Begrüßung im Sprechzimmer Platz, breitet die mitgebrachten Utensilien aus (links die Schnipsel der leeren Medikamentenpackungen zur Nachbestellung, mittig die Tabelle mit den Blutdruckselbstmesswerten, rechts einen Ausschnitt aus der Bäckerblume zu neuen Wundertherapien), und beginnt den Beratungskontakt mit: „heit heb isch mer’s uff’gschriwwe, dass isch nix vergess. Also erschtemol:…. zweitens:….. drittens:….“ Spätestens bei Punkt vier neigt sich die Aufmerksamkeit und Geduld des Therapeuten gen Nullpunkt. Für die Punkte 5-15 wird dann ein neuer Besprechungstermin vereinbart. An der Größe des Zettels lässt sich die Anzahl der Anliegen nicht abschätzen – auch auf dem kleinsten Zettel ist Platz genug, um damit die Morgensprechstunde einer Gemeinschaftspraxis zu sprengen.

Der Türklinkenpatient

Der Türklinkenpatient kommt mit einem banalen Beschwerdebild (harmlose Erkältungsbeschwerden, die er selbst schon erfolgreich anbehandelt hat, Gelenk- beschwerden nach Belastungssituation, welche sich doch schon spontan erheblich gebessert haben oder die Frage, ob die dokumentierten guten Blutdruckwerte auch vom Doktor so gut bewertet werden). In einem erfreulichen Kontakt kann die Harmlosigkeit des Beschwerdebildes, die Effektivität der Selbstbehandlung und die gute Blutdruckeinstellung auch ärztlich bestätigt werden. Mit Händedruck und einer Verabschiedungsformel hat man dann schon die Türklinke in der Hand, da kommt unvermittelt die Frage: „Was isch noch frooche wollt: Gibt’s was geie Potenzstörung?“.

Der Hiegschickte

Der Hiegschickte ist immer männlich, mindestens 40 Jahre alt, verheiratet oder mindestens eheähnlich gebunden, fleißig und beruflich eingebunden. Gelegentlich geht dem persönlichen Kontakt des Geschickten ein Telefonanruf seiner Lebenspartnerin voraus:“Isch schick ihne heit emol moin Mann. Basse sie mol uff. Der macht jo soin Mund net uff. Der muss emol …, der kann net mehr…, saache se dem emol …“ Ganz im Gegenteil zu dieser Vorinformation, gibt sich der Hiegschickte eher beschwerdearm. Er wolle nur mal so verbeischaun, sei ja auch nicht mehr der jüngste, fühle sich aber wohl, man könne ja mal Blutdruck messen. Der Ausgang der folgenden Untersuchung ist nicht kalkulierbar – denkbar ist einerseits die Feststellung einer blühenden Gesundheit (hat die Alte mal wieder übertrieben), aber auch die Offenbarung schwerwiegender Diagnosen.

Der Hartriegel

Der Hartriegel oder Unempfindliche kommt immer unangekündigt in die Praxis, in der Regel alleine. Seine Arbeit hat er für den Arztbesuch kurz unterbrochen und muss auch eilig wieder dorthin. Er bitte nur um ein neues Plaster für einen Kratzer, den er sich gerade eben mit der Kettensäge beigebracht hat. Prädestiniert sind Männer aus der Landwirtschaft, Zimmerleute, Maurer, sonstige Handwerker. Generell eher Einheimische. Zur Wundversorgung nehme man sich viel Zeit – unter einem durchgebluteten Verband mit laienhaft angelegten Binden aus dem Autoverbandkasten findet man destruktive Wunden bis zu Amputations- verletzungen. Die Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung findet bei dem Urumpel kein Verständnis.

Der Lamentierer

Dem Lamentierer fehlt alles, tut alles weh, schon immer und ganz schlimm. Auf einer Beschwerdeskala von Null bis Zehn sind die Beschwerden des Lamentieres permanent bei 11. Nix hilft. Die lang dauernde Beschwerdeschilderung des Lamentierers muss zur Einhaltung der Nachtruhe unbedingt unterbrochen werden. Der Lamentierer kommt häufig und früh in die Praxis. Gerne Montags, weil dann im vollen Wartezimmer schon ein reger Austausch über Beschwerden erfolgen kann. Jedes Therapieangebot nimmt der Lamentierer gerne in Anspruch – besser wird aber nichts.

Der Normale

Der Normale ist glücklicherweise der häufigste Patient auch unter den Odenwäldern. Er kommt mit Krankheiten, die in den Lehrbüchern beschrieben sind und reagiert erfolgreich auf die Standardtherapien. Der Kontakt mit dem normalen Odenwälder ist generell humorvoll und informiert den Arzt nebenbei über neue familiäre Ereignisse, das Ortsleben und die neuesten Witze.

Und welcher sind Sie?